Würde des Menschen in Grenzsituationen des Lebens

Beschluss des Landesparteitags in Roding vom 18./19.5.2015  

I. Leitgedanken

Gerade in Grenzsituationen des Lebens muss sich die Mitmenschlichkeit in einer Gesellschaft bewähren. In solchen Grenzsituationen bedürfen Menschen besonderer Zuwendung und Hilfe. Die Wahrung der Menschenwürde ist für Liberale der Maßstab allen Handelns. Die Würde des Menschen umfasst das Recht, über sich selbst zu bestimmen. Das Selbstbestimmungsrecht gilt auch dann, wenn man seinen Willen nicht mehr selbst ausdrücken und durchsetzen kann. Mit Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht hat unsere Rechtsordnung Mittel bereitgestellt, auch in solchem Falle das Selbstbestimmungsrecht zu wahren. Niemand darf sich anmaßen, sich über den Willen des Patienten und sein Selbstbestimmungsrecht hinwegzusetzen. Das gilt auch für den selbstbestimmten Entschluß eines Menschen, seinem Leben ein Ende zu setzen und Hilfe dabei in Anspruch zu nehmen. Hilfe – auch ärztliche – zum Suizid darf nicht kriminalisiert werden. Liberale wissen, daß gerade in Grenzsituationen des Lebens nicht alles durch gesetzliche Normen geregelt werden kann und muß. Unsere Gesellschaft hat die Pflicht, durch Förderung von Palliativmedizin und Hospizen die Lage des leidenden Menschen so erträglich wie möglich zu machen. Vor allem anderen aber bedarf Menschenwürde bis zum Lebensende der persönlichen Zuwendung. Jeder Einzelne steht deshalb in der Verantwortung für eine menschliche Gesellschaft.  

II. Politische Forderungen

1. Selbstbestimmung und Würde bei Pflegebedürftigkeit und im Alter
  • Die Würde des Menschen und sein Recht auf Selbstbestimmung sind unantastbar. Sie zu achten, zu schützen und zu fördern ist die Aufgabe nicht nur des Staates, sondern auch der professionellen Pflege sowie der bürgerschaftlichen wie der familiären Gemeinschaft.
  • Die Ausbildung des Pflegepersonals muss auf einen besseren Standard angehoben werden; dieser ist fortlaufend an neue medizinische, rechtliche und soziale Erkenntnisse anzupassen.
  • Die Entlohnung des Pflegepersonals muss angemessen und attraktiv werden.
  • Die Anzahl der Betreuten pro Pfleger darf ein festzulegendes Verhältnis nicht überschreiten, das persönlich zugewandte Pflege ermöglicht.
  • Für die Betreuung Pflegebedürftiger und alter Menschen muss unsere Gesellschaft die erforderlichen Mittel bereitstellen. Gegebenenfalls sind Prioritäten in den Haushalten neu festzulegen und die Struktur staatlicher Leistungen anzupassen.
  • Die meisten älteren Menschen wollen ihren Lebensabend zuhause verbringen. Ambulante Pflege muss daher staatlich ebenso gefördert werden wie die stationäre Pflege. Nur so kann das Selbstbestimmungsrecht der Pflegebedürftigen gewahrt werden.
  • Die Qualitätsstandards von Pflegeheimen sind zu aktualisieren und ihre Überprüfung ist sicherzustellen; die angestrebte Qualität hat sich u. a. an folgenden Kriterien zu orientieren:
    • weitgehende Befähigung des Betreuten zur Autonomie,
    • striktes Übermaßverbot der eingesetzten Mittel (immer das mildeste),
    • würdevolle Behandlung gerade auch des völlig Hilfebedürftigen.
  • Auf eine Behandlung nach diesen Standards hat der Bürger einen einklagbaren Anspruch.
  • Das Entgeltsystem der Pflege ist zu überprüfen und Fehlanreize und -steuerungen sind zu beseitigen. Es darf nicht sein, dass Koma-Patienten deshalb besonders häufig und lange auch gegen ihren Willen gepflegt werden, weil sie für Heimbetreiber besonders „rentabel“ sind.
  • Für Konflikte, die sich aus unterschiedlichen religiösen oder kulturellen Wertvorstellungen von Betreuten wie des Pflegepersonals ergeben, sind innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen geeignete Konzepte zu entwickeln.
  • In Pflegeheimen sollen, wie bereits in Krankenhäusern, Ethik-Komitees gebildet werden, die juristische und medizinische Beratung bieten und in schwierigen Fällen Entscheidungshilfen anbieten. Es gilt, das Spannungsverhältnis zwischen Fürsorgepflicht und -anspruch einerseits, der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der möglichst großen Selbstbestimmung und Würde andererseits auszubalancieren.
  • Die Etablierung eines Heimarztes ist zu testen und bei Bewährung einzuführen. Das Recht des Einzelnen auf freie Arztwahl darf durch die Etablierung eines Heimarztes nicht eingeschränkt werden.
2. Selbstbestimmung über medizinische Behandlung und Pflege
  • Der freie Wille des Betroffenen ist als Ausfluss der Menschenwürde (Artikel 1 GG) maßgebend. Sein tatsächlicher oder mutmaßlicher Wille allein bestimmt Art und Weise einer medizinischen Behandlung. Dieser Wille des Betroffenen steht über der Meinung anderer Personen, auch der des Arztes. Die Rechtslage zur Fortsetzung oder zur Beendigung einer Behandlung ist eindeutig (§ 1901a BGB sowie Grundsatzurteil des BGH vom 25.06.2010 *s. Anhang). Die FDP lehnt eine Änderung dieser Rechtslage ab.
  • Allerdings ist diese Rechtslage noch nicht allen Beteiligten (Ärzten, Pflegepersonal, Verantwortlichen in Pflegeheimen, Richtern etc.) hinreichend geläufig, so dass es zahlreiche Unterschiede in der Anwendungspraxis gibt. Daher muss hierzu eine systematische und flächendeckende Aufklärung erfolgen.
  • Die Grundversorgung von Menschen in Grenzsituationen des Lebens, die Linderung von Schmerzen, von Atemnot und das Bemühen, ihnen Ängste zu nehmen insbesondere bei schweren und tödlichen Krankheiten, muss endlich gewährleistet werden. Die FDP setzt sich deshalb nachdrücklich dafür ein, flächendeckende Angebote der Palliativmedizin und von Hospizen sicherzustellen. Auch sind höhere Mittel für Forschung und Lehre bereitzustellen, um die Qualifikation von Fachärzten, Pflegepersonen und Sterbebegleitern weiter zu verbessern.
3. Selbstbestimmung über die Beendigung des eigenen Lebens
  • Der freie und ernsthafte Wunsch eines Menschen nach Beendigung des eigenen Lebens ist zu respektieren. Der Suizid ist keine strafbare Handlung, mithin darf die Beihilfe dazu ebenfalls nicht strafbar sein.
  • Der Entschluss zum Suizid darf nicht durch sozialen oder ökonomischen Druck Dritter verursacht werden. Deshalb bedarf es geeigneter Unterstützung durch fachkundige Beratung, Betreuung und Zuwendung.
  • Die FDP wendet sich gegen alle Versuche, diese Art der Sterbehilfe zu kriminalisieren. Die gegenwärtige Rechtslage bedarf keiner Änderung.
  • Das ärztliche Standesrecht kann dazu führen, dass Ärzte, die im Rahmen unserer Rechtsordnung Sterbehilfe leisten, in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sind. Es ist mit unserem Rechtsverständnis unvereinbar, dass Standesregeln fundamental andere Wertungen vorschreiben als der Gesetzgeber. Daher ist hier rechtliche Klarheit für die Ärzte in Deutschland  herzustellen.
  • Nach geltendem Recht ist niemand, auch nicht der Arzt, verpflichtet, Beihilfe zur Selbsttötung gegen seine Gewissensüberzeugung zu leisten. Auch hieran darf sich nichts ändern.